KOTSCHA REIST ‹SOMETHING EXPRESSED IN SOMETHING›

Bereits im Ausstellungstitel verweist Kotscha Reist auf die offene Bedeutung seiner Bilder, auf „etwas“, das „in etwas“ zum Ausdruck kommt: Seien es die Motive, die „in“ den Bildern einen gewissen Ausdruck erfahren; sei es dieser Ausdruck, der in uns Betrachter*innen je eigene Bilder und Assoziationen wachruft. „Etwas“ sind auch die Andeutungen, das Ahnungsvolle der Geschichten, die er uns mit seiner gegenständlichen, aber nicht bloss figurativen Malerei vor Augen führt und schliesslich die vielseitigen Bezüge und Rückbezüge der Bildmotive sowie der Malerei an sich. Bei den jüngsten Bildern nun greift Kotscha Reist zu einem neuen Verfahren, indem er die Sujets und einzelne Bildelemente auf der Leinwand zunächst abklebt. Danach malt er den Hintergrund und erst zum Schluss die ausgesparten Partien. Auf diese Weise wirken diese mal malerischer, mal zeichnerischer und stellenweise erheben sie sich wie das feine Relief eines Aufdrucks. Damit erweitert er gleichsam das gestalterische Repertoire und die Reflexion darüber sowie über die Bildinhalte und ihre Erscheinung auf der Leinwand.

Kotscha Reist geht stets von konkreten, mithin alltäglichen Sujets aus: Menschen, Tiere, Pflanzen,
Objekte, Architekturen, Szenen im Innen- und Aussenraum; häufig ausschnitthaft, mitunter wiederkehrend wie die Mohnpflanze, ein Zelt oder einzelne Vögel. Er arbeitet nach Vorlagen, wobei dies ebenso gut Texte und Geschichten sein können wie Bilder oder Fotografien; eigene und gefundene Aufnahmen aus den Medien oder dem Internet. Nicht selten rückt er scheinbar beiläufige Ereignisse und Nebenschauplätze ins Zentrum des Geschehens, wobei die Motive und Bildtitel keine eindeutig schlüssige Geschichte ergeben: der Saum eines Vorhangs (‹Snow white›), die Ecke einer gedeckten Tafel oder der Gang einer Katze (‹Walking by›). Sie evozieren vielmehr individuelle Geschichten, die zusammengedacht Ansätze eines kollektiven Gedächtnisses bilden mögen, allerdings im mehrdeutigen Sinn dieses angedeuteten Etwas’. Referenzen auf Vorbilder der Kunstgeschichte, auf andere Künstler*innen oder auf eigene Bilder, die Kotscha Reist in neueren Arbeiten verschiedentlich ‘wiederaufführt’, haftet ferner das Phänomen des Nachbildes an (‹Heritage 5›; ‹Comptoir de Mystique›): Eine Art Nachleuchten wie beim Bild ‹After the show›, worauf die Konturen des letzten Bildes einer Diaprojektion – die Figur eines Skifahrers – gerade noch erkennbar sind. Im Momenthaften von Kotscha Reists Bildern scheinen Präsenz und Absenz, die Gegenwärtigkeit des Augenblicks wie auch seine Vergänglichkeit gewissermassen gleichzeitig auf. Die häufig helltonige und eher feine, aber nicht minder signifikante Malweise geht mit dieser Ambivalenz zwischen Aufscheinen und Verblassen einher und holt die Bilder gleichsam aus der Vergangenheit und der Erinnerung zurück in eine Gegenwart der Erscheinung.

Mittels seiner Malerei löst Kotscha Reist die Motive immer wieder aus ihrem Kontext heraus, dekodiert sie und führt sie uns als neuartige Bildkompositionen vor Augen. Bisweilen werden sie von feinen Linien oder Gitterstrukturen überzogen, die an Fenstersprossen oder an das Raster eines Kamerasuchers erinnern. Die Raster – wie auch die verschiedenfarbigen Punkte und die dunklen Umrahmungen auf anderen Bildern – verdeutlichen die Distanz zwischen Vorlage und Abbild und verorten unseren Standpunkt als Betrachter*innen ausserhalb des Bildes (‹Bikini›; ‹Girl with dots; ‹Die Betrachtung›). In gewisser Weise werden Kotscha Reists Bilder so zu Projektionsflächen und Bildbühnen für stets neue Aufführungen von Motiven im lebhaften Zusammenspiel mit seiner Malerei.

Marc Munter, 2021